Ilya Frank über seine Lesemethode

Meine Lesemethode: Wie sie entstanden ist und wie sie nützlich sein kann

1999 war ich als Dozent an der Russischen Geisteswissenschaftlichen Universität gezwungen, Privatstunden in Deutsch zu geben (in jenem Jahr gab es einen Staatsbankrott, und die Höhe der Dozentengehälter war rein symbolisch). Mein Schüler war ein Geschäftsmann, der im Begriff war, Russland für immer zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Er hatte keinerlei deutsche Sprachkenntnisse.

Wie üblich begann ich den Kurs mit einigen Einführungslektionen, in denen ich dem Schüler die Aussprache und einige Grundlagen der Grammatik erklärte (ganz allgemein die Deklination von Substantiven und Adjektiven, die Konjugation von Verben, die Vergangenheitsformen, das allgemeine Konzept des Konjunktivs, die Wortstellung im Deutschen), und ging dann zur Konversationspraxis über.

Soviel ich weiß, besteht der übliche Ansatz darin, eine Sprache schrittweise anhand von Lehrbüchern zu erlernen, wobei jeder Abschnitt im Buch ein bestimmtes Thema und eine bestimmte Portion Grammatik behandelt. Ich sehe in diesem Ansatz zwei Nachteile: erstens die völlig künstliche Verknüpfung eines bestimmten lexikalischen Themas mit dieser oder jener Grammatik und zweitens die Unmöglichkeit einer freien Konversation. Was ist das für eine Konversationspraxis, wenn ein Schüler zum Beispiel über die Deklination von Adjektiven oder die Bedingungsform erst nach einigen Monaten des Lernens (und im Falle des Schulprogramms auch erst nach einem Jahr oder sogar einigen Jahren) erfahren kann? Das ist ungefähr so: Lasst uns sprechen, aber nur ohne Adjektive und ohne Versuche, Sätze zu sagen wie „Wenn ich ein solches Fahrrad hätte …“.

In Wirklichkeit, wie ich das verstehe, wird dies folgendermaßen gelöst. Der Lehrer sagt: „Fragt euch gegenseitig, was ihr gestern Abend gemacht habt.“ Es ist klar, dass es sich keineswegs um eine Sprechpraxis, sondern lediglich um eine Übung einer bestimmten Vergangenheitsform handelt. Deswegen denke ich, dass man dem Schüler gleich am Anfang die Grundlagen der Grammatik vermitteln sollte (das können drei-vier Lektionen sein), und danach kann man zur Konversationspraxis und verschiedenen Themen (Situationen, Diskussionen, Nachrichten) übergehen, wobei man die Grammatik allmählich erweitert, präzisiert und übt (und sie nicht mit einem bestimmten lexikalischen Thema verknüpft).

(Natürlich kann ein Mensch eine Sprache durchaus auch ganz ohne Grammatikwissen und sogar ganz ohne Lehrer erlernen, vorausgesetzt, er befindet sich vollends in einer fremdsprachlichen Umgebung. Eine solche Situation wird hier nicht weiter analysiert.)

Ich komme auf die Geschichte meines Schülers zurück. Wir machten uns (im Verlauf einiger Lektionen, ganz allgemein) mit der deutschen Grammatik vertraut und begannen zu sprechen. Das Gespräch basierte auf den Thementexten aus dem Lehrbuch, war aber in keiner Weise grammatikalisch eingeschränkt, das heißt, völlig frei (nicht vorgegeben). Ich hatte ihm nur manchmal mit der richtigen Variante der Aussprache oder irgendeinem Wort nachgeholfen, um sein Sprechen zu unterstützen (die Theorie kannte er bereits, er musste sie nur noch in die Praxis umsetzen, das heißt, sich gewöhnen).

Und dann irgendwann bat mich mein Schüler, einen Teil des Unterrichts dem Lesen zu widmen, und zwar so: dass wir gemeinsam einen Text lasen und ich ihm dabei die Bedeutung von Wörtern und Redewendungen, die ihm nicht geläufig waren, erläuterte. Für mich war es schade, dass ich dafür Zeit von derjenigen für die Konversationspraxis abziehen musste, deswegen gab ich ihm jedes Mal einen ausgedruckten Text, den er eigenständig lesen sollte und in dem ich (in Klammern) die Bedeutung der Wörter angab (ich wusste ja, welche Wörter und Wendungen er nicht kannte).

Da mein Geschäftsmann früher bei der Polizei gearbeitet hatte, gab ich ihm einen Krimi zu lesen. Es stellte sich jedoch sofort heraus, dass ihm diese Lektüre überhaupt nicht lag: Der ehemalige Polizist war entrüstet und sagte, dass es so nicht ablaufe, dass der Autor nichts verstehe und einen völligen Unsinn schreibe. Wir suchten nach einer anderen Lektüre und entschieden uns für die Märchen der Gebrüder Grimm, die auf erstaunliche Weise den Geschäftsmann nicht nur ansprachen, sondern auch seine volle Sympathie weckten: Er lachte, fühlte mit den Helden mit usw.

Es vergingen einige Wochen, und ich wusste nicht mehr, welche Wörter er kannte und welche nicht. Deshalb begann ich, die Übersetzung nicht einzelner Wörter, sondern kleiner Satzteile (in Klammern) hinzuzuschreiben, das heißt, gab die vollständige Übersetzung eines Satzes an, indem ich ihn mit Klammern in kleinere Abschnitte unterteilte – natürlich der Logik des Satzes folgend. Gleichzeitig entstand die Notwendigkeit, einzelne Wörter zu erklären und dabei nicht nur ihre genaue Bedeutung anzugeben (das heißt, zuerst die ursprüngliche Bedeutung und dann die, die das Wort im Text hatte), sondern auch die Wörterbuchform (zum Beispiel bei unregelmäßigen Verben in der Vergangenheitsform) und manchmal sogar das Wort hinzuzufügen, aus dem das kommentierte Wort hervorging. Das sah in etwa so aus (ich ersetze die russische Übersetzung durch die englische):

Ich befand mich in der Nähe einer norddeutschen Stadt (I was in the vicinity of a north German town; sich befinden — to find oneself; to be; die Nähe, f — nearness; vicinity; nah — near) auf dem Landhause eines Freundes (at the country home of a friend; das Land country; das Haus house; home; der Freund /male/ friend).

Da nicht mehr einzelne Wörter, sondern Textpassagen übersetzt wurden, musste man außerdem zwischen einer eher wörtlichen und einer eher literarischen Übersetzung wählen. Eine wortwörtliche Übersetzung kann nämlich den Sinn des Textes verschleiern oder sogar ganz unverständlich sein. So kam ich auf folgende Lösung: In den Fällen, in denen eine wörtliche Übersetzung sich gänzlich holprig anhörte und das Verständnis behinderte oder verlangsamte, sollte sie mit einer literarischen Übersetzung kombiniert werden (durch das Hinzufügen der literarischen Übersetzung nach einem Gleichheitszeichen). Hier einige Beispiele (zur Abwechslung einmal umgekehrt: nicht ein Engländer oder ein Amerikaner lernt Deutsch, sondern ein Deutscher oder ein Österreicher lernt Englisch):

“In what an amiable light does this place him (in was für ein liebenswürdiges Licht ihn dies stellt = wie liebenswürdig ihn dies darstellt; amiable [‘eɪmɪəbl])!” thought Elizabeth (dachte Elizabeth).

Ein weiteres Beispiel:

Lady Lucas has been very kind (Lady Lucas ist sehr gütig gewesen); she walked here on Wednesday morning to condole with us (sie ging am Mittwoch hierher um uns zu kondolieren = ihr Beileid auszudrücken; condole [kən’dəul]).

Ein weiteres Beispiel (mit kursiver Schrift – zur Hervorhebung der literarischen Version der Übersetzung gegenüber der wörtlichen Version):

And as I come back, I can call on Lady Lucas and Mrs. Long (und wenn ich zurückkomme = beim Zurückkommen kann ich Lady Lucas und Mrs. Long besuchen).

Möglich ist auch die umgekehrte Vorgehensweise: zuerst die literarische Übersetzung angeben und dann die wörtliche Übersetzung (mit Doppelpunkt und Anführungszeichen). Es ist Sache des Übersetzers zu entscheiden, was in jedem konkreten Fall am besten ist. Zum Beispiel:

And as I come back, I can call on Lady Lucas and Mrs. Long (und beim Zurückkommen: “wenn ich zurückkomme” kann ich Lady Lucas und Mrs. Long besuchen).

An dieser Stelle ist vielleicht anzumerken, dass die Übersetzung (in Klammern) jedes einzelnen Wortes den Text praktisch unverständlich und das Lesen furchtbar verlangsamt machen würde.

Das Einfügen (mit Hilfe von Klammern) von drei Dingen in den Originaltext: einer wörtlichen Übersetzung, einer literarischen Übersetzung (die nur dort hinzugefügt wird, wo es notwendig ist) und einem kurzen lexikalischen Kommentar (ebenfalls nur dort, wo er für das genaue Verständnis der Bedeutung eines Wortes und seiner ursprünglichen grammatikalischen Form wichtig ist) schafft also eine maximale Annäherung der Übersetzung an das Original, ohne dabei die Wahrnehmung des Textes besonders zu behindern (außerdem kann der Leser, der die Passage auch ohne Hilfestellung verstanden hat, das in Klammern Geschriebene, also die Übersetzung und den Kommentar, überspringen).

Weiter dachte ich: „Und doch ist der Leser, der den Originaltext mit Hilfestellungen liest, wie eine Person, die schwimmt und sich dabei die ganze Zeit an einem Brett festhält. Wie wäre es, wenn wir ihm die Möglichkeit geben, ohne dieses Brett zu schwimmen – wenigstens nur ganz kurze Strecken?“ Also teilte ich den Text in kleine Passagen (jeweils mit ein paar Zeilen): Zuerst gab es eine Passage mit Hilfestellungen, und dann wurde dieselbe Passage wiederholt – aber schon ohne Hilfestellungen. Der Leser las die Passage zunächst mit Hilfestellungen („adaptiert“ – nicht im Sinne einer Vereinfachung des Textes, sondern wörtlich: „angepasst“) und dann dieselbe Passage „frei“ (weil er keine Zeit gehabt hatte, die Übersetzung und den Kommentar zu vergessen). Ich denke, dass das Einprägen des Wortschatzes und die Gewöhnung an die Struktur einer Sprache vor allem gerade beim Lesen der nicht angepassten Passage geschieht, da das Fehlen der Übersetzung die Aufmerksamkeit aktiviert.

Ich komme noch einmal auf die Geschichte des Schülers zurück. Die Kombination von Sprechübungen und intensivem Lesen hatte folgenden Effekt: Erstens kannte er bereits (passiv) all die Wörter, die ihm in den neuen thematischen Texten (die dazu gedacht waren, Situationen durchzuspielen und Diskussionen zu gestalten) begegneten, er musste sie nur noch aktivieren. Zweitens vergaß er diese Wörter nicht, als er weiterlas (denn ein großes Problem beim Spracherwerb ist ja, dass man an einem bestimmten Punkt „steckenbleibt“: Man vergisst altes Material im gleichen Tempo, wie man neues Material aufnimmt).

Das ist das Ende der Geschichte meines Schülers, und ich wende mich nun der Frage zu, worauf meine Lesemethode basiert. Stellen Sie sich vor: Sie haben einen gewissen Einführungs- (oder Übersichts-) Sprachkurs (mit Ihrem Lehrer oder im Selbststudium) absolviert und beginnen einen solchen Text zu lesen – der mit einer Übersetzung und einem Kommentar versehen, aber nicht vereinfacht ist. Nehmen wir an, Sie kennen bereits ein paar hundert oder sogar ein paar tausend Wörter. Wenn Sie mit dem Lesen beginnen, ist es, als würden Sie auf das offene Meer hinausfahren – der Wortschatz eines Schriftstellers kann durchaus mehr als 20.000 Wörter umfassen. (Kein Lehrbuch, auf welchem Niveau es sich auch bewegt, wird Ihnen übrigens so viele Wörter beibringen. Lehrbüchern werden in der Regel kleine Wörterbücher beigefügt – zählen Sie selbst nach, wie viele Wörter diese enthalten.) Man wird also anfangs von einer Lawine neuer Wörter und Wendungen überrollt und denkt: „Wie soll ich mir das alles merken? Mache ich nicht gerade etwas Sinnloses?“ Der Trick besteht allerdings darin, dass beim Sprechen (und auch beim Schreiben) Wörter und Wendungen ständig wiederholt, „abgespult“ werden. Genau durch diese ständige Wiederholung prägen sie sich ein. Dadurch unterscheidet sich der Erwerb einer Fremdsprache vom Studium beispielsweise der Geografie oder der Geschichte. Wenn Sie sich mit Geschichte beschäftigen, sind Sie gezwungen, sich immer wieder neue, sich nicht wiederholende Dinge zu merken. Wenn Sie eine Sprache lernen, werden Sie unzählige Male mit denselben Wörtern und Gegebenheiten konfrontiert. Es ist gut, ein gutes Gedächtnis zu haben; für viele Lernfächer ist es einfach ein Muss, während es für das Sprachenlernen lediglich optional ist. Sie können sich davon überzeugen, nachdem Sie einige Dutzend Seiten eines mit dieser Methode adaptierten Buches gelesen haben (einige Dutzend Seiten – das ist allerdings ohne die Adaption, welche die Textmenge etwa um das 3,5-fache vergrößert). Das Wichtigste ist, dass man intensiv liest (je intensiver, desto schneller wird alles „abgespult“, desto schneller prägt sich der Wortschatz ein und desto schneller gewöhnt man sich an die Sprache). Es ist ratsam, mindestens eine Stunde am Tag zu lesen. Oder noch besser, zwei Stunden. Oder drei oder vier … (Eine Sprache ist wie eine Eisrutsche, die man unmöglich langsam hinaufgehen, aber schnell hinauflaufen kann. Eine Sprache ist kein Lernstoff, sondern eine Sache der Gewohnheit – wie Schwimmen, Autofahren …) Wenn Sie einmal dessen überdrüssig werden oder Sie irgendetwas dabei stören sollte, können Sie eine Woche lang pausieren und danach weitermachen – bis Sie fließend lesen können und zum freien Lesen ohne Hilfestellungen übergehen (das sollte nach ein paar Monaten der Fall sein). Meine Lesemethode – das ist nicht etwas für immer; sie ist sozusagen nur ein Baugerüst. Irgendwann muss dieses entfernt werden.

Hier ist anzumerken, dass das Prinzip der Darbietung des Vokabulars in den Lehrbüchern das Gegenteil von dem ist, was man in den üblichen Büchern findet. Während in den Büchern das Vokabular ständig wiederholt wird, basiert jeder neue Text in einem Lehrbuch meist auf völlig neuem Vokabular. Und da es in den folgenden Texten (in den folgenden Abschnitten) nur minimal wiederholt wird, ist es ziemlich schwierig, es sich zu einzuprägen.

Hier möchte ich ein paar Worte über mich und die Besonderheiten meines Gedächtnisses sagen. Ich habe mich schon immer gerne mit Sprachen beschäftigt (seit meinem elften Lebensjahr, als ich in der Schule anfing, Deutsch zu lernen), es wurde zu meinem Hobby und später zu meinem Beruf. Zugleich ist mein Gedächtnis nicht nur schwach, sondern, ehrlich gesagt, sogar irgendwie behindert. Ich hatte zum Beispiel immer Schwierigkeiten, mir meine Adresse, meine Telefonnummer und die Namen meiner Bekannten zu merken (meine Telefonnummer habe ich auch jetzt nicht im Kopf, und so trage ich sie, eingelegt in meinen Pass, mit mir mit). Als ich etwa 20 war, dachte ich, es wäre nicht schlecht, Gedichte auswendig zu lernen (da ich an der Moskauer Universität Literaturwissenschaft studierte und mich allgemein für Poesie interessierte). Es klappte auf ganzer Linie nicht: Am nächsten Tag hatte ich das Gelernte vergessen. Dann wiederholte ich es, aber vergaß es trotzdem. Ich kann auch jetzt noch kein einziges Gedicht auswendig, obwohl ich Poesie liebe und ständig Gedichte lese. Ich kann mir kein Alphabet merken, weder das russische noch das lateinische (vom Einmaleins ganz zu schweigen). Den Inhalt eines gelesenen Buches vergesse ich nach zwei Wochen fast vollständig. Ich liebe es sehr, Geschichtsbücher zu lesen, aber da ist, wie man so schön sagt, Hopfen und Malz verloren. Trotz meiner Faszination für Sprachen konnte ich nie mehr als die Hälfte eines Lehrbuchs bewältigen: Ich vergaß stets einfach die Wörter und die Grammatik und verstand keine Texte mehr. Dafür gelang mir Folgendes: Ich nahm ein Buch in einer Fremdsprache, von der ich nur eine ansatzweise Vorstellung bekommen hatte, nahm mir ein Wörterbuch und begann zu lesen. Zum Beispiel war mein erstes deutsches Buch, das ich im Alter von 13 Jahren las, „Klein Zaches genannt Zinnober“ von E. T. A. Hoffmann. Anfangs las ich langsam (und schaute die ganze Zeit im Wörterbuch nach) und verstand nicht alles – als würde ich im Nebel tappen. Doch dann (schon etwa nach der Hälfte des Textes) begann sich der Nebel zu lichten. Später las ich schon verschiedene deutsche Bücher, und nach einem Jahr konnte ich fließend lesen, das heißt, ohne Wörterbuch (genauer gesagt, schlug ich im Wörterbuch nach, konnte aber auch darauf verzichten, da mir im Schnitt nur ein unbekanntes Wort pro Seite begegnete). Im Alter von 15-16 Jahren lernte ich, auch auf Französisch zu lesen (ich las vor allem Balzac), und mit 17 auf Englisch (Walter Scott und Ähnliches). Jetzt lese ich Bücher in fast allen europäischen und einigen östlichen Sprachen.

So wird also das Einprägen von Wörtern und Redewendungen beim Spracherwerb durch ihre ständige Wiederholung sichergestellt. Aber es gibt noch einen weiteren wichtigen Punkt, der beim Merken eine große Hilfe ist. Nehmen wir zum Beispiel vier Wörter: „Haus“, „anfangen“, „benachbart“ und „Feuer“. Wenn man sie getrennt voneinander lernt (zusammen mit der jeweiligen Übersetzung in die Muttersprache), kann man sie natürlich erlernen. Wenn man aber weiter auf diese Weise die Wörter lernt, und es werden irgendwann nicht mehr vier, sondern, sagen wir, vierzig oder vierhundert Wörter sein, dann wird Folgendes passieren: Die Wortreihen (in der Fremdsprache und in der Muttersprache) verschieben sich gewissermaßen im Verhältnis zueinander. Sie werden sich daran erinnern, dass Sie dieses eine Wort gelernt haben, es wird Ihnen bereits vertraut sein, aber Sie werden sich nicht erinnern, was es nun bedeutet. Wenn wir dagegen die oben genannten vier Wörter in dem Satz „Im benachbarten Haus hat ein Feuer angefangen“ kombinieren, fällt es viel leichter, sich diese Wörter zu merken, weil sie durch eine gemeinsame Bedeutung verbunden sind und sich gewissermaßen gegenseitig unterstützen. In der Rede (der mündlichen und der schriftlichen) treffen wir auf genau solche zusammenhängenden Wörter. Sagen wir mal so: Das Auswendiglernen einzelner Wörter ist die erste und schwierigste Methode des Merkens. Das Auswendiglernen von Wörtern in einem zusammenhängenden Text ist die zweite, viel rationalere Methode. Aber das ist noch nicht alles; es gibt noch eine dritte Methode. Stellen Sie sich vor, Sie leben auf dem Land – und plötzlich hören Sie einen Schrei: „Im benachbarten Haus hat ein Feuer angefangen!“ Sie empfinden sofort Angst und Mitgefühl für Ihre Nachbarn (wenn Sie ein guter Mensch sind) und (auf jeden Fall) Angst um Ihr eigenes Haus (weil das Feuer ja auch auf dieses übergreifen könnte). Kurz gesagt, zu der Bedeutung des Satzes kommt ein Gefühl hinzu, das nicht da wäre, wenn es sich nur um einen Satz aus einem Lehrbuch handeln würde (zum Beispiel zur Veranschaulichung irgendeiner grammatikalischen Erscheinung). Wenn sich das Gefühl einschaltet und zur Bedeutung hinzukommt, dann prägt man sich alles mit hundertprozentiger Sicherheit ein. Es muss nicht so eine Extremsituation wie ein brennendes Haus sein. Wenn Sie mit jemandem sprechen oder eine Erzählung lesen, sind die dem Geschehen entsprechenden Gefühle in Ihnen ebenso aktiv.

Also: Was am besten in Erinnerung bleibt, ist etwas, das eine Bedeutung hat und ein Gefühl hervorruft. Damit haben Sie ein Kriterium, anhand dessen Sie die Wirksamkeit einer bestimmten Methode des Spracherwerbs selbst bewerten können.

Wortschatz und Sprachstruktur prägen sich am besten in der Rede ein: in der mündlichen (in freier – nicht auf eine bestimmte grammatikalische Regel bezogener – Konversation) und in der schriftlichen (bei der Lektüre eines Buches, das für Sie interessant ist – und wohl kaum kann ein vereinfachter, gekürzter Text wirklich interessant sein).

Ich sagte „Sprachstruktur“, damit meine ich vor allem Grammatik. Lassen Sie uns darüber im Detail sprechen. Nehmen wir denselben kleinen Satz als Beispiel: „Im benachbarten Haus hat ein Feuer angefangen.“ Um ihn zu sagen, muss man eine ganze Reihe von grammatikalischen Regeln kennen (Wortstellung, der Dativ von Substantiven und Adjektiven, Gebrauch von bestimmten und unbestimmten Artikeln, das Perfekt von trennbaren Verben). Wenn Sie die Grammatik der deutschen Sprache kennen, aber keine Sprechfertigkeit darin haben, werden Sie diesen Satz natürlich formulieren können. Aber es wird einige Zeit in Anspruch nehmen – und Sie werden dadurch hinter der Situation zurückbleiben. So kann man nicht reden (außer vielleicht mit einem Zellengenossen – in einer Situation, in der niemand es eilig hat). Was soll man also tun? Ein Lehrbuch schlägt Ihnen normalerweise vor, für jede einzelne Regel eine Reihe von Übungen durchzuführen. Das Problem ist jedoch (und Sie haben es wahrscheinlich schon aus eigener Erfahrung erkannt), dass in einer Situation der freien Kommunikation es Ihnen nicht gelingt, mehrere Regeln in einer einzigen Äußerung zu kombinieren (und diese fehlerfrei zu sagen). Warum also einen Weg einschlagen, der ins Leere führt? Und dennoch lernen es die Menschen, eine Fremdsprache zu sprechen. Auf welche Weise geschieht das? Es geschieht durch die Variabilität einer Äußerung. Sie haben zum Beispiel einmal gesagt (oder gehört): „Der Unterricht hat angefangen.“ Oder: „Der Film hat angefangen.“ So können Sie irgendwann sagen: „Ein Feuer hat angefangen.“ Sie haben bereits einmal gesagt: „im Bezirk“, „im Restaurant“, deshalb werden Sie keine Schwierigkeiten haben, „im Haus“ zu sagen. Sie haben bereits einmal gesagt: „im letzten“, „im blauen“, sodass Sie im nötigen Moment die richtige Form einhalten: „im benachbarten“. Genau so lernen wir alle in Wirklichkeit, eine Sprache zu sprechen – allmählich, mit Fehlern, aber eben so: nicht besonders viel über Grammatik nachdenkend, sondern sich an Muster gewöhnend. Das heißt, genau so sollte Grammatik geübt werden (als eine besondere Art der Lektion, neben der Übung der freien Rede). Man sollte dem Schüler irgendeine Äußerung vorschlagen, anschließend diese variieren und ausbauen (indem man neue Wörter, neue Wortkombinationen und neue Sätze hinzufügt – bei der Bildung komplexer Sätze). Ein Musterbeispiel für diese Art des Grammatiktrainings ist die Methode von Michel Thomas (1914–2005) („Michel Thomas Method“).

Aber auch wenn ein Schüler ein Buch liest, geschieht etwas Ähnliches: Er gewöhnt sich an die Sprachkonstruktionen, die Grammatik dank eben dieser Variabilität.

Deswegen würde ich Folgendes empfehlen: Bevor Sie mit dem Lesen nach meiner Methode beginnen, ist es sinnvoll, eine Art Einführungssprachkurs zu absolvieren (das kann man auch auf eigene Faust machen, aber man sollte sich dabei nicht in Lehrbücher, die für Monate oder Jahre des Lernens gedacht sind, stürzen, sondern lediglich schnell ein paar grundlegende Dinge aus einem Lehrbuch für den Selbstunterricht oder einem Grammatikhandbuch anschauen), dann zu lesen und „sich in der Sprache zu belesen“ (was nach der Lektüre einiger Bücher geschehen wird). Anschließend sollten Sie zur Grammatik zurückkehren (und dabei natürlich mit dem Lesen weitermachen) – und es wird Ihnen schon keine Schwierigkeiten bereiten, sondern interessant für Sie sein, sich mit ihr zu beschäftigen. Denn Sie werden all die Gegebenheiten bereits unterschwellig kennen und ihnen mit dem Gedanken begegnen: „Ach, so ist das also! Nun ja, klar, das habe ich mir schon gedacht.“ Und nicht: „Was ist denn das bitte? Das ist ja furchtbar!“

Ich muss Sie warnen, dass meine Lesemethode nicht garantiert, dass Sie eine Fremdsprache fließend sprechen werden. Sprechen lernt man nämlich nur im Prozess des Sprechens selbst (und deshalb kann kein Lesen und kein Lehrbuch Ihnen das Sprechen beibringen – glauben Sie nicht dem, was manchmal auf den Buchdeckeln steht). Sprechen lernt man entweder mit einem Lehrer (und Mitschülern) oder durch Konversation mit Muttersprachlern. Wenn Sie jedoch einmal gelernt haben, in einer Fremdsprache fließend (ohne Wörterbuch) zu lesen, können Sie bei Bedarf (zum Beispiel wenn Sie in eine fremdsprachliche Umgebung kommen) problemlos in dieser Sprache „ins Reden hineinkommen“ (denn Sie kennen das Vokabular und die Struktur – es geht nur darum, sie vom Passiv ins Aktiv zu bringen). Diese Erfahrung habe ich mit Französisch gemacht: Ich las bereits fließend Französisch und kam für einen Monat nach Frankreich – und am Ende meiner Reise sprach ich auch bereits ziemlich fließend.

Natürlich kann meine Lesemethode auch einfach Ihren Sprachunterricht in Kursen und Ähnlichem begleiten und unterstützen.

Jedoch hat nicht jeder das Ziel, gerade die gesprochene Sprache zu beherrschen. Einige (und sogar ziemlich viele) wollen einfach nur in der einen oder anderen Sprache lesen lernen. Und auch in diesem Fall macht es keinen Sinn, zu einem Lehrbuch zu greifen und Sätze wie „Ich habe ein Zimmer bestellt“ oder „Wie komme ich zur Bibliothek?“ auswendig zu lernen. Es genügt, wie ich bereits erzählt habe, wenn man sich die Grundlagen der Grammatik anschaut und direkt zum Lesen übergeht.

Ich selbst interessiere mich zum Beispiel gerade für das Lesen (aber übrigens auch für das Ansehen von Filmen und das Hören verschiedener Sendungen über Literatur, Kunst und Kulturgeschichte). Warum muss ich zum Beispiel fließend Dänisch sprechen können? Ich bin in meinem Leben nur einmal einem Dänen begegnet (und wir haben Englisch gesprochen). Aber ich liebe dänische (und norwegische) Literatur, ich lese sie ab und zu im Original. Außerdem muss die Sprechfertigkeit ständig aufrechterhalten werden, und wie soll man dies gleichzeitig für ein Dutzend Sprachen schaffen? Für das Lesen dagegen brauchen Sie nichts aufrechtzuerhalten: Wenn Sie einmal das Niveau des fließenden Lesens erreicht haben, geht das nicht mehr verloren. Normalerweise lese ich ein paar Monate lang in einer bestimmten Sprache, dann wird mir langweilig, und ich wechsle zu einer anderen Sprache. (Dieser Moment des Übergangs macht sehr viel Freude, denn er schenkt ein erneuertes Gefühl für die Sprache, zu der man wechselt – zu der man zurückkehrt wie zu einer weiteren Muttersprache.)

Ich möchte auch anmerken, dass meine Lesemethode nicht für jeden geeignet ist. Wenn Sie überhaupt keine Bücher lesen, ist sie nichts für Sie. Denn sie basiert ja auf Interesse: Sie lesen das Buch, ohne die Sprache zu lernen, gehen von einem Textabschnitt zum nächsten, denken nicht an die Grammatik, sondern folgen nur der Handlung. Die Methode basiert auf einem unterschwelligen Erlernen der Sprache. Sie können in kurzer Zeit eine so große Menge an Sprachmaterial aufnehmen (selbst bei einer Stunde pro Tag sind es Tausende von lexikalischen Einheiten), gerade dadurch, weil Sie das Material nicht lernen, sondern ohne nachzudenken aufnehmen. Während Sie ein Buch lesen, benutzen Sie die Sprache als ein Werkzeug, als ein Mittel – und verinnerlichen sie dadurch schnell. Das ist so ein psychologisches Prinzip: Wenn Sie beispielsweise den Gang einer Person beobachten möchten, ist es besser, sie aufzufordern, nicht einfach durch den Raum zu gehen, sondern sagen wir, ein Fenster zu öffnen. Im ersten Fall wird ihr Gang verkrampft und unnatürlich sein; im zweiten Fall wird sie ganz locker die Strecke zum Fenster gehen, weil sie nicht an ihren Gang, sondern an ihre Aufgabe denken wird, das heißt, nicht an das Mittel, sondern an das Ziel. Die Sprache ist ein Mittel dazu, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, also lernt man sie dann am besten, wenn man sie als Mittel benutzt, sei es im Gespräch, beim Lesen oder auf irgendeinem anderen Weg der Informationsgewinnung. (Wenn Sie mehr über die psychologischen Grundlagen eines solchen Ansatzes zum Erlernen einer Fremdsprache wissen möchten, lesen Sie über die suggestopädische Methode des Fremdsprachenunterrichts des bulgarischen Psychotherapeuten und Pädagogen Georgi Losanow (1926–2011)).

Die richtige Auswahl eines Buches ist deshalb ebenfalls wichtig. Das Buch sollte für Sie interessant sein, betrachten Sie es nicht als ein Lehrbuch. Wenn Sie keine Märchen mögen, lesen Sie sie nicht. (Wir versuchen, das Angebot an Büchern abwechslungsreich zu gestalten, nach und nach gibt es immer mehr davon.)

Ehrlich gesagt, kenne ich keine bessere Methode, um Vokabeln zu lernen, als ein Buch zu lesen. In der Alltagssprache gibt es (bestenfalls) einige tausend Wörter, in Büchern sind es mehrere zehntausend. Wenn Sie sich auf Lehrbücher und die gesprochene Sprache beschränken, werden Sie immer das Gefühl haben, dass Sie die Fremdsprache unzureichend beherrschen. Sie werden zwar alles sagen können, aber werden auch im Gesagten eines gebildeten Gesprächspartners nicht alles verstehen, ganz zu schweigen von Artikeln oder Filmen (einschließlich Dokumentarfilmen). Und noch ein wichtiger Punkt, bezüglich der Frage, wie nützlich die Lektüre von klassischer Literatur ist, wenn man eine Sprache dafür lernt, um zu kommunizieren: Sprache besteht nicht nur aus modernen Wörtern. Ein Muttersprachler kann jederzeit ein Wort verwenden, das in Ihrem Wörterbuch als „va.“ (veraltet) gekennzeichnet ist. Ich spreche schon gar nicht von irgendwelchen Erzählungen über Kultur – in der Presse oder im Film. Stellen Sie sich nur jemanden vor, der Deutsch gelernt hat, aber das Wort „gnädig“ oder das Wort „obsiegen“ nicht kennt.

Ich glaube, ich habe Ihnen alles Wichtige erzählt. Es bleibt noch hinzuzufügen, dass in den letzten mehr als 20 Jahren in Russland über 400 Bücher nach meiner Lesemethode in 63 Sprachen mit einer Gesamtauflage von etwa zwei Millionen Exemplaren veröffentlicht wurden. (Ich bin den Übersetzern und Verlagsmitarbeitern sehr dankbar!) Besonders freut es mich, wenn Leser in ihren Rezensionen schreiben, dass sie auf diese Weise gelernt haben, in verschiedenen Sprachen zu lesen – und sogar in solchen, mit denen sie sich eigentlich gar nicht beschäftigen wollten.

Ilya Frank